Eindrücke aus der Flüchtlingssozialarbeit
Ich komme nicht mehr hinterher, komme, komme nicht mehr hinterher. Zu viele Eindrücke, Gesichter, Menschen, Namen, Listen, Bilder und vor allem: Zu viel Papier. Bürokratischer Wahnsinn: Zuweisungs-Bescheid, Heimausweis, Duldung, Ablehnungsbescheid, Dublin-Bescheid, Klageschreiben, Nein – Ungarn ist keine Option für eine Rücküberstellung - Kontaktaufnahme Rechtsanwalt, Mist – wir haben keinen serbisch Dolmetscher: Wie erkläre ich Ausreiseaufforderung mit Händen und Füßen? Kontaktaufnahme Dolmetscher, Kostenübernahmeantrag Überweisung zum Psychiater, Erlaubnisschein für das vorrübergehende Verlassen des Landkreises Lörrach: Anträge über Anträge: HALT! STOP! Ich muss hier raus! Raus aus dem Büro und auf den Balkon. Frische Luft. Ich halt es nicht mehr aus. Der bürokratische Wahnsinn gepaart mit der Ohnmacht der Menschen und den Erwartungen von allen Seiten: Das Thema ist eine Goliath-Aufgabe, ich aber leider immer noch kein David. Augen zu, einatmen, tief Luft holen, Stoßgebet: Vertrauen, Abgeben, Loslassen, Erdung und endlich: Handlungs-Stopp und Reflektion:
Gefühlt hat sich die Situation im Land aber auch im Landkreis in den letzten Wochen zugespitzt. Es wird immer verrückter. In den Medien wie auf der Arbeit. Die „Flüchtlingswelle“ schwappt durch das öffentliche Bewusstsein und spült allerlei Sorgen, Ängste, Fremdenhass, aber auch eine große Portion Hilfsbereitschaft nach oben. Die Macht der Bilder, sie beeinflusst auch mein Denken, mein Handeln und die Angst, dass die Stimmung kippen könnte, steigt. Generell habe ich nach der Arbeit und am Wochenende das Gefühl, nur noch ausländische Menschen in den Straßen zu treffen. Ist das nun ein Zeichen von selektiver Wahrnehmung, der Einfluss der Arbeit oder der Medien oder schlichtweg der Umstand, dass Deutschland ein attraktives Zuwanderungsland ist? Ich weiß es nicht mehr. Ich komme nicht mehr hinterher mit dem Verarbeiten, mit dem Nachdenken, mit dem befreienden Von-der-Seele-Schreiben. Die Bilderflut, die Wucht der medialen Berichterstattung ist dabei deutlich heftiger als die Realität in der Unterkunft. Die Anfragen besorgter sowie engagierter Bürger steigen wie auch die Flüchtlingszahlen im Landkreis. Das Telefon klingelt zum zehnten Mal: „Nein, wir nehmen keine Kleiderspenden mehr entgegen. Trotzdem: Vielen Dank!“
Vorgestern ist eine Familie freiwillig nach Serbien zurückgekehrt, nächste Woche zieht eine neue Familie in ihre Wohnung ein. Es bleibt nicht viel Zeit für Abschied, keine Zeit für intensive Gespräche, für Herzlichkeit, Begegnung, Austausch. Es nagt an mir. Es fühlt sich nach Massenabfertigung und Aktenabarbeiten im dauerhaften Krisenmodus an. So hilflos und überfordert wie manche Familien (ohne jegliche Sprachkenntnisse) in fremder Umgebung und Kultur sind, müsste eigentlich jede Familie einen Sozialbetreuer an die Seite bekommen. Zum Glück haben wir ehrenamtliche Helfer die uns unterstützen; die Sprachkurse organisieren, Fahrdienste anbieten, bei Umzügen helfen, übersetzen, zu Behörden und Ärzten begleiten, schöne Dinge mit den Flüchtlingen unternehmen und helfen, Kontakte aus der Unterkunft hinaus ins Leben zu schlagen. Vom Zirkusbesuch mit Kindern und Jugendlichen bis hin zu Begegnungscafé für unsere Bewohner. Unsere Bewohner, - wie das klingt. Ja, ich fühle mich verantwortlich für die Schutzsuchenden doch zugleich ist mir bewusst: Ich kann mich nur in dem – von der Politik vorgeformten – rechtlichen Rahmen und innerhalb meiner eigenen, beschränkten Grenzen bewegen, unterstützen und beraten.
Und dann - am späten Nachmittag, in der Beratung, plötzlich, dieser junge Mann aus dem Kosovo, dessen grüne Augen sanft und gütig aus der Tiefe bis zu mir hinüber blicken und die Distanz zwischen uns vollkommen wortlos überbrücken. Er war mir sofort bei der Ankunft durch seine Hilfsbereitschaft und positive Aura aufgefallen. Er hatte vergangene Woche bereits dem Hausmeister täglich bei anstehenden Arbeiten geholfen und jetzt – zwei Wochen nach Einzug – habe ich endlich Zeit für ein erstes Gespräch. Er schaut mich einfach nur an und beginnt dann langsam in gebrochenem Deutsch zu erzählen: Ich komme aus dem Kosovo. Ich weiß dass ich kein Asyl bekommen werde, aber ich will arbeiten. Im Kosovo lebe ich mit meiner Familie zusammen in einer Wohnung. Wir sind 8 Personen. Ich arbeite als Gipser seit 6 Jahren für 10 Euro am Tag … Ich will kein Sozialgeld, ich will einfach nur arbeiten und Geld verdienen um meiner Familie zu helfen. Der Mann ist so alt wie ich und mir kommen die Tränen. Ich lasse sie zu und dem ganzen alltäglichen Wahnsinn entsteigt aufleuchtend als Hoffnungsschimmer – endlich: Verbundenheit und Empathie, Nähe zwischen Menschen – über Länder-, Sprach- und kulturelle Grenzen hinweg!
Wortlaut entnommen aus dem Blog von Simon Geiger.